Der Krieg, das Bekenntnis und die Moral

Junius Frey

„Ich bekenne, … Putin ist ein Vergewaltiger, jede UkrainerIn hat das Recht auf Selbstverteidigung, der russische Angriffskrieg ist Angriff auf alles …“
Deja-Vu:
„Ich bekenne, … Corona ist eine gattungsbedrohende Pandemie, … Solidarität heißt, sich einschließen, alle Maßnahmen des Staates a priori für vernünftig zu halten, … Impfverweigerung ist atavistische Regression.

Moral und Wissenschaft

Zur Frage der Moral. Die letzten Jahre schienen eigentlich die Renaissance einer wissenschaftlich-technizistischen Vernunft gewesen zu sein, die sich anschickte, zur ganz neuen, alten neuen Leithermeneutik zu werden. Sowohl in der neuen Klimabewegung insbesondere um FFF, aber auch ganz wesentlich im Umgang mit der Corona-Pandemie sollten die Naturwissenschaften zu den neuen leuchtenden Sternen am ansonsten verdunkelten Himmel gesellschaftlicher Orientierung werden. Vermeinlich objektive Daten um Kippunkte, CO2-Mengenobergrenzen, Überlebensprognostiken über den Globus bestimmten die politischen Entscheidungen und Forderungen der jungen Bewegung, ebenso, wie kurz darauf in der Auseinandersetzung um Pandemiemaßnahmen mathematische Modellierungen der Ausbreitungsdynamiken die Vermessung der Welt übernahmen.

Aber dies war doch nur die eine Seite einer um sich greifenden Verwirrung über den Zustand der Welt und der Frage, wie sie denn zu begreifen sei. Denn in einem ganz widersprüchlichen Verhältnis zur „Verwissenschaftlichung“ politischer und gesellschaftlicher Problemkonstellationen, aber doch nur in scheinbarem Gegensatz dazu stand gleichzeitig eine immer weiter um sich greifende Moralisierung von Politik und gesellschaftlicher Praxis. Es schien also nicht so weit her zu sein mit der orientierenden Substanz (natur-)wissenschaftlicher Erkenntnis. Zuerst warf solche Moralisierung ihre Schatten in der Linken, in der radikalen Linken voraus; die Ermüdung über Reflexion, die Abscheu vor den Mühen von Freiheit und Autonomie führten schon vor Jahren zu einer praktischen Moralisierung der Existenz vieler Linken, der Denken, Reflexion und Dialektik nur als Greuel erschien. Ihre Unfähigkeit und Bereitschaftslosigkeit das eigene und das Elend der Anderen zu verstehen, trieb sie in einen identitären Moralismus, in einen säkularisierten Pietismus wie schon im 17. Jahrhundert, wie schon vor längerem GenossInnen diagnostizierten: „Seelenerforschung“ und moralischer, auch nach Außen getragener Perfektionierungszwang, standen in seinem Zentrum und sollten durch die starke Binnenorientierung in die geistliche Gemeinschaft, die „ecclesiola‟, abgesichert werden. Heute ist dies durch Herrschaftskritik als politisch korrektes Diskussionsverhalten, Kritik am white-saviorism, den eigenen Privilegien, an extrem verregelten Diskurs- und Diskussionsformen u.s.w. ersetzt und findet seine geistliche Gemeinschaft in der politisch regredierten roten Gruppe, im Plenum oder im Camp. In dieser vemeintlichen Form von Herrschaftskritik wird versucht, das eigene und das Elend der Welt durch eine bis ins Obszöne gesteigerte moralische Perfektibilität zu bekämpfen. Das ist die tragische Umkehrung neoliberal-kapitalistischer Selbstoptimierungszwänge, die sich in permanente Arbeit an der eigenen moralischen Integrität wendet.1 Weiterlesen

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Ukraine – Keine Erklärung

Junius Frey

Dieser Text hier ist keine Erklärung (Déclaracion) über den Krieg in der Ukraine. Solche Erklärungen können mindestens aus linker Perspektive nämlich zur Zeit nichts anderes als Bekenntnisse sein. Sie sind entweder ein bejahendes Bekenntnis zum herrschenden Umgang mit dem Krieg, oder eine Affirmation in Form eines Schuldbekenntnisses, einer Beichte (Confession). Die erbärmlichste Form einer solchen Beichte ist übrigens das Geständnis und die Kritik an anderen Linken, eines „kruden Antiimperialismus und Campismus“ schuldig geworden zu sein. Weiterlesen

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Et si conspirer était une bonne idée? – Und wenn sich verschwören eine gute Idee wäre?

Die Übersetzung dieser Rezension des im französischen erschienenen Manifests ist uns von @iLArrabbiata zugeschickt worden. Wir danken herzlich dafür!

Manifeste conspirationniste

– Traduction du compte-rendu du nouveau „Manifeste conpirationniste“ sur https://reporterre.net/Et-si-conspirer-etait-une-bonne-idee
Und wenn sich verschwören eine gute Idee wäre?
– Übersetzung einer Rezension des neuen „verschwörerischen Manifests“ auf https://reporterre.net/Et-si-conspirer-etait-une-bonne-idee:

Verschwörungen sind überall, sie sind sogar Teil des Lebens, versichern die – anonymen – Autoren1 des „Manifest conspirationniste“ (dt.: „verschwörerischen /verschwörungstheoretischen Manifests“). Das Buch ist ein Wirbelwind, der die intellektuelle Luft aufwirbelt, die seit zwei Jahren durch das Covid-Gebot gelähmt ist.

Wir ersticken!

Wir ersticken unter den absurden Befehlen, den wiederholten Geldstrafen, den Widersprüchen und den Dekreten, den Pseudo-Experten, den Lügen und den Wahrheiten, die sich im Laufe der Zeit verändern und der Unmöglichkeit, zu diskutieren und zu reflektieren. Wir ersticken nach zwei Jahren der Infantilisierung, der Verleugnung der kollektiven Intelligenz, der Beleidigungen durch den Präsidenten und der Bereicherung der Milliardäre. Während wir angesichts der Pandemie handeln, weil wir Bürger und nicht Untertanen sind, ersticken wir an der Verlogenheit all dieser Leute.

Und weil wir ersticken, tut es sehr gut, das Manifeste conspirationniste zu lesen. So wie das Öffnen des Fensters die wirksame Methode ist, um das möglicherweise in der geteilten Luft zum Atmen schwebende Virus hinaus zu befördern, so ist auch dieses Buch eine offene Tür, um die Debatte aufzurühren und aus der kollektiven Stummheit herauszukommen. Weiterlesen

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Zwischen Katastrophenbesoffenheit und „nacktem-Leben“-Nihilismus

Die Pandemie hat die Welt scheinbar fest im Griff, und die Art und Weise des Umgangs damit nimmt in fast jeder Hinsicht immer absurdere, aber auch bedrohlichere und bedrückendere Züge an. Zwei Diskurse formen zur Zeit den Horizont des als denkbar Erlaubten und ersticken darin fast jede Möglichkeit befreiender Phantasie.

Katastrophenbesoffenheit

Da ist einerseits die Katastrophenbesoffenheit von Teilen der politischen Klasse und der wissenschaftlichen Eliten, die längst befreit von jeglicher (aufgeklärten)Vernunft Untergangsszenarien in die Welt blasen, das einem nur noch zum Kotzen ist. „Viele 40-80 Jährige werden einen Moment der Unachtsamkeit mit dem Tod oder Invalidität bezahlen“ twitterte am 26.03. die bundesdeutsche Reinkarnation sozialdemokratischer Flachgeistigkeit, Lauterbach, und ergänzte seinen Katastrophenhorizont um das, was ihm offenkundig noch schlimmer als der Tod erscheint: „Junge Männer werden von Sportlern zu Lungenkranken mit Potenzproblemen“. Eine pandemische Welle soll die andere jagen, und wenn die zweite von der dritten abgelöst ist, steht natürlich schon die vierte vor der Tür. Mutationen sind für ihn „brandgefährlich“, wie wenn man „ein Feuer habe und nochmal Benzin nachgießt“. „Biologischer Kriegszustand“ titelt der Berliner Tagesspiegel die Forderung einiger Ärzte nach einem „harten Lockdown“.

Da hat man schon das Gefühl, dass die Katastrophe regelrecht herbeigesehnt wird, und der Kriegszustand das eigentliche Leben ausmacht, so wie einst von Ernst Jünger in Stahlgewittern beschrieben. Die Pandemie – zur Katastrophe und zum Kriegszustand hochstilisiert – ist der Moment des eigentlichen Lebens, des Bestehens und der Bewährung der eigenen Existenz. Diese Katastrophenbesessenheit hat sich längst jeder politischen und philosophischen Reflexion entledigt und nimmt im Namen der eigenen Bewährung Vernunft und Freiheit in Geiselhaft – vielleicht weil sie ihren Unheilspropheten ein einziges mal vermeintliche Erfahrungssättigung in ihrem Leben schenkt. Und nicht nur deshalb wird diese Katastrophenverliebtheit auch so schnell nicht an ein Ende gelangen. Denn während der erste Weltkrieg tatsächlich in der fast vollständigen Katastrophe endete, weil ihm erst die nahezu vollständige Erschöpfung an Leib und Seele ein Ende bereitete, sehen wir bei Corona gerade nicht einem solchen Ende entgegen. Weiterlesen

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Ein undurchmessener Riss

Der Rauch hat sich einigermaßen verzogen, aber mit der Initiierung des Aufrufs Zero-Covid hat sich ein Riss innerhalb der radikalen Linken vertieft, der ingesamt noch nicht durchmessen ist. Alle Diskussionen, alle verzweifelte „Haltet ein‟-Rufe sind vor den Nackte-Lebensangst- und Gut-das-mal-was-passiert- Protagonist*innen des Aufrufs verhallt. Jedes Argument, egal ob die Frage nach den Implikationen des China-Vergleichs und der Frage nach den totalitären Voraussetzungen der dortigen Politk wurden ebenso wie die Frage nach dem europäisch-homogenisierenden und ausschließenden Charakter des geforderten lockdowns zur Seite gefegt. Man muss B. Adamczak einfach wieder zitieren, damit es nicht vergessen wird: „Ich bin für offene Grenzen ebenso wie für offene Bars und offene Beziehungen. Alles schwierig in einer Pandemie. Wo Grenzübertritte notwendig sind, etwa bei Flucht, braucht es Quarantäneregeln.‟ Das Reflexionsniveau hat die Lumenzahl der Berliner Clubs unterschritten.

Auferstanden aus Ruinen …

Wer diese metropolenexistenzbefeuerten Sprüche kritisierte, wurde als Schwurbler diffamiert, wer den Wahnsinn der schon wissenschaftlich irrigen Hoffnung auf ein totales Ende des Virus kritisierte, wurde ob seiner Wissenschaftskritik als reaktionär beschimpft. Und aus dem Umfeld einer ehemals linksradikalen Organisation wurden Propagandaparolen weiterverbreitet, die unüberbietbar sind: „ Wir wollen doch auch wieder kuscheln und Fremde knutschen … Deshalb brauchen wir jetzt den lockdown‟. Es war der ehemalige Minister für Staatssicherheit der DDR, Erich Mielke, der dafür die literarische, aber wohl leider auch die politische Vorgabe gab: „Ich liebe – Ich liebe doch alle – alle Menschen – Na ich liebe doch – Ich setzte mich doch dafür ein!‟ Weiterlesen

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Die Null-Covid-Täuschung

Wir veröffentlichen hier die Kritik von Michaël Foessel an der bundesdeutschen Kampagne Zero-Covid. Sie ist am 04. Februar in der französischen Liberation erschienen, und wird von uns in einer nichtautorisierten Übersetzung vorgestellt. Wir finden es wichtig, dass solche Stimmen Gehör finden.

Philosophische Chronik

Die Null-Covid-Täuschung

Anhänger der deutschen radikalen Linken plädieren für eine „Zero Covid“-Strategie mit Abschaltung der Industrie. Anstatt von der Aufhebung des Kapitalismus zu träumen, sollte die Linke stattdessen über eine alternative Wirtschaft nachdenken.

von Michaël Foessel, Professor für Philosophie an der Ecole polytechnique, veröffentlicht am 4. Februar 2021 um 18:01 Uhr

Im Januar schlug ein Kollektiv von deutschen WissenschaftlerInnen und AkademikerInnen eine Strategie namens „Zero Covid“ vor, die radikaler ist als diejenige, die sich nur die „Abflachung der Kurve“ zum Ziel setzt. Deutschland hat noch nie einen Lockdown nach französischem Vorbild praktiziert, mit Attestierung und Maskenpflicht auf der Straße. Die BefürworterInnen von „Zero Covid“ wollen auch nicht die Polizei zum Zentrum des Dispositivs machen, sondern sie plädieren für eine viel drastischere Eindämmung, eine effektive Rückverfolgung kontaminierter Personen und eine Abschaltung der Industrie, die erst dann beendet wird, wenn die Krankheit nicht mehr gefährlich ist. Weiterlesen

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Neuestes Beispiel einer verlorenen Linken

zero-covid.org

Heute kam über twitter zu mir eine Meldung, die den totalen lockdown angesichts der Inzidenz-Zahlen fordert. Damit soll jetzt Schluss sein, indem man eine gemeinsame europäische Anstrengung zur absoluten Elimination von Covid durch einen totalen Shutdown auch der Wirtschaft fordert.

Die Linke reagiert so, wie sie schon seit Jahren reagiert: mit einem reflexhaften Rekurs auf das Soziale ohne jeglichen Sachverstand und ohne jegliche strategische Kompetenz. Ja, liebe Ex-GenossInnen, es ehrt Euch wirklich, dass ihr auch die „Wirtschaft‟ in die Pflicht nehmen wollt. Auch wenn es ein wenig wie ein blubbernder Neidkomplex daher kommt. Aber Euer Kampf gegen den ideellen Gesamtkapitalisten ist schwachsinnig: Auch ein lockdown der Betriebe wird nichts nutzen. Auch Euer Versprechen, aus 0-Tolerenz-Gründen gegenüber dem Virus zu Hause zu bleiben, wird die Frage nicht beantworten, wer denn Eure immer kleiner werdenden Brötchen backen wird. Oder wartet auf Euren Balkonen und in Euren Kleingärten, auf euren roofgardens schon die neue Roggenernte, mit der ihr dann in der Küche im Feuer Eurer Kapitalanalysen, die ihr offensichtlich nie verstanden habt und deshalb nicht braucht, Euer täglich Brot backt?

Hört auf, Euch vorzumachen, dass der Virus im totalen lockdown verschwinden wird. Er wird nie verschwinden. Er ist selbst im totalitären China, dass ihr als großes Beispiel indirekt preist, nicht verschwunden. Und schon gar nicht wird er in eurem „europäisch‟ gedachten lockdown verschwinden. Die Pandemien und Epidemien werden überhaupt nicht wieder verschwinden. Sie werden immer wieder kommen, wenn nicht endlich Schluss ist mit Vernichtung von Regenwald, Artenvielfalt, mit Wachstumswahn und Konsumnotwendigkeit. Es werden neue Viren kommen, und ihr werdet einen neuen totalitären lockdown fordern, und er wird wieder nichts nutzen: Ihr seid die Zyniker!

Kommt raus aus Euren Büros, in die ihr Euch verkrochen habt, malt Transparente, damit ihr Stangen nutzen könnt, diesen Kapitalismus zum Teufel zu jagen. Nur so können wir Schluss mit den Verwüstungen und den Pandemien machen!

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