Wir veröffentlichen hier die Kritik von Michaël Foessel an der bundesdeutschen Kampagne Zero-Covid. Sie ist am 04. Februar in der französischen Liberation erschienen, und wird von uns in einer nichtautorisierten Übersetzung vorgestellt. Wir finden es wichtig, dass solche Stimmen Gehör finden.
Philosophische Chronik
Die Null-Covid-Täuschung
Anhänger der deutschen radikalen Linken plädieren für eine „Zero Covid“-Strategie mit Abschaltung der Industrie. Anstatt von der Aufhebung des Kapitalismus zu träumen, sollte die Linke stattdessen über eine alternative Wirtschaft nachdenken.
von Michaël Foessel, Professor für Philosophie an der Ecole polytechnique, veröffentlicht am 4. Februar 2021 um 18:01 Uhr
Im Januar schlug ein Kollektiv von deutschen WissenschaftlerInnen und AkademikerInnen eine Strategie namens „Zero Covid“ vor, die radikaler ist als diejenige, die sich nur die „Abflachung der Kurve“ zum Ziel setzt. Deutschland hat noch nie einen Lockdown nach französischem Vorbild praktiziert, mit Attestierung und Maskenpflicht auf der Straße. Die BefürworterInnen von „Zero Covid“ wollen auch nicht die Polizei zum Zentrum des Dispositivs machen, sondern sie plädieren für eine viel drastischere Eindämmung, eine effektive Rückverfolgung kontaminierter Personen und eine Abschaltung der Industrie, die erst dann beendet wird, wenn die Krankheit nicht mehr gefährlich ist.
Diese Strategie hat ihre Logik, die nicht im Wechsel von Restriktionen und Entspannung besteht, sondern darin, das Leiden über einen definierten Zeitraum zu konzentrieren, um dorthin zurückzukehren, wo die Dinge vor der Krise waren. Weit davon entfernt, revolutionär zu sein, ist sie ausdrücklich von der in Australien oder in einigen asiatischen Ländern verfolgten Politik inspiriert. Unter letzteren beziehen die Zero-Covid-BefürworterInnen sich nicht auf China. Dieses Beispiel hätte jedoch gezeigt, dass „provisorische“ autoritäre Maßnahmen eher langfristig angelegt sind und dass das Aussetzen von Rechten nicht der beste Weg zur Wiederherstellung der Freiheit ist.
Dieser Verdacht scheint auch den AnhängerInnen von „Zero Covid“ nicht in den Sinn gekommen zu sein, einer Bewegung, die aus der deutschen radikalen Linken stammt und sich von ihren liberalen Alter Egos dadurch unterscheidet, dass sie den Kampf gegen das Virus zum Beweis dafür machen will, dass der Kapitalismus suspendiert werden kann. Hier ist das Ziel, die Gesellschaft unter eine Glocke zu stellen, ein zweifaches: den Virus ein für alle Mal loszuwerden und die sozialen Beziehungen in einem egalitären Sinne zu verändern.
Diese Strategie basiert auf dem Axiom „null ist null“: Wir müssen nicht nur die Interaktionen zwischen den Individuen begrenzen, sondern das Produktionssystem als Ganzes stoppen. Warum die Wirtschaft retten, wenn so viele Rechte (auf Bildung, auf Freizügigkeit etc.) ausgehöhlt werden? „Zero Covid“ plädiert für einen „solidarischen Lockdown“, bei dem die Gemeinschaft ein Sozialsystem übernimmt, da die Epidemie die Ungerechtigkeit der Verhältnisse demonstriert hat. Alles muss geschlossen werden, aber nicht so, dass die Dinge wieder normal werden können. Sondern um zu beweisen, dass diese (kapitalistische) Normalität die eigentliche Krankheit ist.
Zunächst einmal hinkt Deutschland hinterher. Die VerteidigerInnen von „Zero Covid“ entdecken nun die Utopien der „nächsten Welt“, die schon vor einem Jahr in einem von der ersten Welle schwer getroffenen Frankreich aufschienen. Man kann zwar den Wunsch verstehen, dem Virus ein schnelles Ende zu bereiten, aber das Vertrauen in die soziale Kontrolle der Epidemie (um ein Virus zu besiegen, muss man es nur wollen) muss in Frage gestellt werden, vor allem, wenn es von der Linken ausgeht. Man kann nie sicher sein, dass man am Ende vergeblich nach den Freiheiten sucht, die man am Anfang aufgegeben hat. Man wird noch weniger in der Lage zu sein, nach einer solchen Schockbehandlung neue Freiheiten zu erobern.
Die Null-Linke lässt auch die Illusion aufleben, dass eine Epidemie Gutes bringen könnte. Marxistische DenkerInnen (beginnend mit Engels) haben die Hypothese einer „Dialektik der Natur“ aufgestellt. Aber sie haben sich nie vorgestellt, dass eine Krankheit die Ursache für sozialen Fortschritt sein könnte. Auch nicht, dass sie die Macht hat, einen Kapitalismus zu stürzen, der so vielen Revolutionen standhält. Anstatt von einer Gesellschaft ohne Wirtschaft zu träumen, sollte die Linke eine andere Wirtschaft ins Auge fassen, eine, die gerechter, aber auch weniger anfällig für die Globalisierung der Viren ist. Die Linke könnte auch auf den Wunsch nach Freiheit und Feiern setzen, die nicht darauf warten, dass eine Katastrophe auf wundersame Weise eine strahlende Zukunft gebiert.