Ukraine – Keine Erklärung

Junius Frey

Dieser Text hier ist keine Erklärung (Déclaracion) über den Krieg in der Ukraine. Solche Erklärungen können mindestens aus linker Perspektive nämlich zur Zeit nichts anderes als Bekenntnisse sein. Sie sind entweder ein bejahendes Bekenntnis zum herrschenden Umgang mit dem Krieg, oder eine Affirmation in Form eines Schuldbekenntnisses, einer Beichte (Confession). Die erbärmlichste Form einer solchen Beichte ist übrigens das Geständnis und die Kritik an anderen Linken, eines „kruden Antiimperialismus und Campismus“ schuldig geworden zu sein.

Einer anderen Form der Erklärung fehlt dieses Moment der (Selbst-)bezichtigung, allerdings auch jede Form von Selbsterkenntnis. Sie propagiert diese oder jene Form von Solidarität mit diesen oder jenen Opfern und spricht in einen leeren Raum. Das Echo dieser Propaganda verhallt im besten Sinne, im schlechtesten Falle wird es eben affirmiert oder absorbiert. Niemand sucht unsere Deklaration/ Confession, niemand fragt uns nach unserer Meinung. Vielleicht ist es darum besser, das Angebot des Schweigens zu nutzen und sich auf die Suche nach Erklärungen (Explikation) dessen zu begeben, was da geschieht, oder vorgibt, zu geschehen.

Momentum I: Technik und Simulakrum

Nimmt man die vergangenen Kriege, z.B. den Einmarsch der „Koalition der Willigen“ im zweiten Irakkrieg 2003, oder auch den Angriff auf die Twin-Tower im Jahr 2001, wird deutlich, dass die Gesellschaft des Spektakels (Debord) heute ein neues Niveau, erstaunlicherweise eine weniger spektakuläre und gleichzeitig ein allgemeinere Vorstellung entwickelt hat. Am 11. September 2001 wurden wir noch vor den Fernsehern in die Echtzeit des Angriffes auf die Twin-Tower hineingezogen. Die Gleichzeitigkeit und die Bilder formten unser Verhältnis zu den Ereignissen. Der Fernseher war unsere Prothese des elektronischen Zeitalters, unser Griff auf die Geschehnisse am anderen Ende der Welt. (McLuhan) Aber er koppelte nicht nur Bilder und Töne an unser Erleben zurück und schuf dadurch ein global village, eine neue gemeinsame Kultur. Er schuf eben eine neue, eine noch nie dagewesene Kultur. Der Fernseher war nicht einfach eine Daguerreotypie, ein Abbild der Wirklichkeit, sondern eine camera obsura, eine Verkehrung der Welt, genauer: eine neue Vorstellung. Die Macht der Bilder holte den Schrecken nicht in das eigene Wohnzimmer, sondern rief den Schrecken erst hervor, sie machten uns eben nicht zu Zeugen des Schreckens in New York oder Bagdad. Vielmehr blieb uns der Schrecken in Echtzeit verborgen. Wir hatten nicht am Anschlag teil, sondern an einem globalen Spektakel. Ähnlich war es dann im Krieg 2003, an dem wir als Mitspieler eines Ego-Shooters ohne Joystick teilhaben konnten.

Die Bilder schufen einen Schrecken mit je eigener Ästhetik zwischen dem Bangen darum, ob der Tower jetzt einstürzen würde (Zeitlichkeit) und der Teilhabe als embedded Zuschauer zwischen den nachts grell blitzenden Raketeneinschlägen in Bagdad (Bilder). Diese Ästhetik war selbst eine Wirklichkeit, und nicht nur die Art und Weise, wie wir mit der Wirklichkeit verbunden waren. Die Technik, die diese Ästhetik evoziert, ist nicht nur – so der Medientheoretiker McLuhan – die Extension des menschlichen Körpers, die RGB-pixel des Fernsehers unsere Verbindung zur Welt. Die Technik selbst ist es, die eine (zerstörerische) Macht auf den Menschen ausübt: Wenn die Technik tatsächlich als Extension des menschlichen Körpers verstanden werden muss, impliziert dies zugleich die Tatsache, dass sie einer Amputation menschlicher Organe gleichkommt: Der Phantomschmerz, der der Amputation eigen ist, ist realer Schmerz, aber unser eigener Schmerz, also der Schmerz der Bilder und der Daten, nicht der Menschen Schmerz. Der angesichts der Bilder empfundene Schmerz ist nicht der Schmerz der Anderen, nicht die Trauer über die Gewalt; er ist keine Empathie. Der Schmerz über die Gewalt ist nacktes Simulakrum, unser Bondage im Spektakel. Die Antlitze der Menschen haben sich der Gewalt, die den Anderen angetan wird, längst verschlossen.

Längst schon aber leben wir ja auch nicht mehr im Zeitalter von Film und Fernsehen. Verbunden sind wir mit der Welt nicht mehr durch die Bilder, durch das synchrone Echtzeitkino, sondern vielmehr durch die Datenströme und Algorithmen. Die Extension des menschlichen Körpers liegt im 7 Zoll-Display des smartphones, der social-media, sie liegt im chat von Telegram, Signal oder den Chiffreketten von twitter, den Kurzfilmen von TicToc. Mit dem aktuellen Krieg in der Ukraine sind wir in erster Linie nicht mehr durch das Faszinosum der Gleichzeitigkeit, sondern durch die permanenten Datenströme verbunden. Trotz der Permanenz dieser Datenströme aber erzeugen sie keine Chronologie, keine wirkliche Zeitlichkeit, keine Entwicklung (weder in die Katastrophe noch in deren Ende). Es sind vielmehr Informationssplitter, die von den Algorithmen der software völlig unabhängig von dem, was in der Ukraine geschieht, zum Kaleidoskop der vielen Bedeutungen umgeformt werden. Jeder hashtag kann sich zu einer vorübergehenden Bedeutung verdichten. Er braucht die Bilder nicht mehr substantiell, erinnert fast eher wie in einer Regression an den newsticker der telegrafischen Epoche, erweitert nur durch Memes, die Produkt des Algorithmus und Schöpfung von Bedeutung sind. Die Bedeutungsproduktion hat sich von der Zeitlichkeit gelöst, sie vollzieht sich in der Logik der Algorithmen der big five.

Das Urteil über den Krieg, seine Dimensionen, Ursachen oder Auswirkungen verkommt zum hektischen Versuch der chat- und twitter-Reaktion: Waffensammeln für diese oder jene Bevölkerungsgruppe, der Drei-Sekunden-Phantomschmerz über das genauso lange dauernde Video über eine auf dem Bürgersteig eingeschlagene Granate, ein neu gefundener hashtag über ein ungehörtes Kriegsereignis, das in den Algorithmus eingespeist werden muss. So schrieb Mc Luhan: „Statt sich auf eine riesige alexandrinische Bibliothek hinzubewegen, ist die Welt ein Computer geworden, ein elektronisches Gehirn […] Und so wie unsere Sinne sich nach außen gestülpt haben, so dringt der Große Bruder in uns ein. Folglich werden wir, wenn wir uns dieser Dynamik nicht bewusst sind, schlagartig in eine Phase panischen Schreckens hineingeraten, was genau zu unserer kleinen, von Stammestrommeln widerhallenden Welt, zu unserer völligen Interdependenz und aufgezwungenen Koexistenz passt.“ (McLuhan, Krieg und Frieden im globalen Dorf 1968)
Die Irrationalität der Begegnung und Konfrontation mit der Gewalt, auch dort, wo sie der Bilder beraubt, aber um den Moment des Augenblicks gefestigt ist (social media, twitter …) rührt also aus der Produktion des Simulakrums durch die Technik selbst, und so hängt unsere Reaktion natürlich (oder: als 1. Natur) an der besonderen Form der Technik.

Momentum II: Die Gewalt, der Gewalt ein Ende bereiten zu wollen

Vielleicht erklärt das die Widersprüchlichkeit, mit der bei uns einerseits große Mehrheiten der Bevölkerung gegen Kriege sind, und zugleich in völliger Besoffenheit eine Generalmobilisierung vorangetrieben wird, die ihresgleichen sucht. Im Handstreich sollen in Deutschland 100 Mrd. Euro für militärische Zwecke freigestellt werden, jahrzehntelange Anstrengungen um eine Reduktion des Anteils des Militärhaushalts am Gesamthaushalt sind zunichte gemacht und die Menschen in der Ukraine werden zu einem amorphen Volks- und Kulturkörper umgeformt, dessen Auslöschung bedroht sei. Ein paar wenige tausend Flüchtlinge aus Syrien, die an der polnischen Grenzen das europäische Prinzip, die Humanität bedrohten und uns längst in einen low intensive war gestellt hatten, sind nichts mehr gegen die Millionen ukrainischen Flüchtlinge, die nun das Glück trifft, der Gewalt entrinnen zu können. Der panische, angsterfüllte 1,50 m Abstand-Haß zum Nächsten der letzten zwei Jahre hat sich nicht selten über Nacht in die Bereitschaft, in den Krieg zu ziehen, verwandelt.
Eine solche Gewaltbereitschaft ist möglicherweise nur dadurch zu erklären, dass in unserer Welt des Globalen eine Gewalttätigkeit herrscht, die mit aller Gewalt aller Gewalt ein Ende setzen will. Vielleicht erklärt das auch die Gewalttätigkeit in der Pandemie, in der wir nicht nur die Alten und Kranken eingekerkert haben, sondern zugleich auch mit aller Macht und Gewalt die Aussetzung des Lebens zu befürworten bereit waren, um vermeintlich das Leben zu bewahren?
Diese Gewalt der globalen Welt (geben wir es doch zu: auch Russland ist Teil des Globalen, so wie umgekehrt der Fundamentalismus nie ein Teil der Vormoderne, sondern auch der Moderne war) – die Gewalt des Globalen könnte mit Jean Baudrillard gesprochen ein System sein, dass jede Singularität – auch die des Todes – auszulöschen bereit ist. Und so würde sich die Unerbittlichkeit des Krieges und die Schnelligkeit der Ortsbestimmung zu diesem Krieg zugleich erklären.
2002 sprach Baudrillard in seinem Text „Der Terror und die Gegengabe“ deshalb davon, dass man weniger von Gewalt (violance) als von Virulenz sprechen müsse, da die gegenwärtige Gewaltförmigkeit der globalen Welt viral sei, und „mittels Ansteckung und Kettenreaktion operiert“, und nach und nach „all unsere Immunitäten und unsere Widerstände“ zerstören würde. Wenn die Rede vom exponentiellen Wachstum der Inzidenzzahlen schon für den Virus galt, so darf man sie getrost auch auf die Exponentialität, auf die Explosivität des Wachstums uneingeschränkter Zustimmung zu den Regierungspolitiken beziehen, die vorgeben, der Gewalt ein Ende bereiten zu wollen.

Momentum III: Das Universelle und die Singularität

Im Anschluss an den Anschlag von 2001 schien die Hypothese des Meisterdenkers Lyotard von der Gewaltförmigkeit der Sehnsucht nach dem Universellen, nach der Transparenz der Verhältnisse und nach dem universellen Anspruch auf Gleich-gültigkeit der Menschenrechte, die ihrerseits nur Krieg und Terror hervorbrachte, plausibel. Er schrieb in seinem Bericht über das postmoderne Wissen: „Wir haben die Sehnsucht nach dem Ganzen und dem Einen, nach der Versöhnung von Begriff und Sinnlichkeit, nach transpa­renter und kommunizierbarer Erfahrung teuer bezahlt.“ Als Gegenstück dieses Universellen erschien vielen die Singularität als Reaktion, als Gegenstück, als das Andere unserer Ordnung: Aber selbst Baudrillard konnte schon damals nicht anders als zuzugeben: „Was das System zum Scheitern bringen kann, sind nicht positive Alternativen, sondern Singularitäten. Nun sind diese aber weder positiv noch negativ. Sie sind keine Alternative, sondern gehören einer anderen Ordnung an. Sie gehorchen keinem Werturteil mehr und auch keinem politischen Realitätsprinzip.“ (Der Terror und die Gegengabe 2002). Das war etwas, was eigentlich auch schon der Meisterdenker der Postmoderne Lyotard ahnte, als er die Frage stellte, ob die Differenz, die Singularität, das Andere die Rettung sein kann. Denn eigentlich hatte er selbst seine Frage schon negativ beantwortet und die Konsequenzen der Bestreitung und Destruktion des Universellen formuliert. Es ist der Krieg: „… Die Antwort darauf lautet: Krieg dem Ganzen, zeugen wir für das Nicht-Darstellbare, aktivieren wir die Differenzen, retten wir die Differenzen …“ (Lyotard, Postmoderne und Dekonstruktion 1990, 48.)

Der vermeintliche Ausweg aus der Gewalttätigkeit der Moderne in der Suche nach der Singularität ist nur ein großer Irrtum der Postmoderne. Singularität und die Differenz sind nicht die Rettung aus der Hölle. Denn die Auslöschung der Singularität ist nicht das eigentliche Verbrechen der großen Erzählung des Universellen. Die Entgegensetzung von Universalität und Singularität verspricht kein Ende der Gewalt.
Denn andersherum verkörpert auch Putin nicht einen Gegenschlag des Partikularen gegen die schlechte Universalität. Seine Politik ist keine Politik einer anderen Ordnung, der die überdauernde und so rehabilitierte Universalität entgegensteht. Nato und deutsche Bundesregierung agieren möglicherwiese von einem überkommenen Menschenrechtsimperialismus, der aber provoziert anders als vielleicht der Terror, keine Politik, die „keinem Werturteil mehr und keinem Realitätsprinzip mehr gehorcht“. (Baudrillard)
Die Konstruktion des Irrealen, Irrationalen, des Nicht-politischen, des Anderen dieser Ordnung in Putin ist nur der schlecht verschleierte Versuch, eine vermeintlich sichere Position des Universalen einzunehmen. Die Spekulation über den „möglichen Wahnsinn von Putin“, die aus dessen Position das Andere der Ordnung macht, kann doch nicht verdecken, dass ihre Position nicht das Jenseits der Position Putins ist. Sie kann es schon deshalb nicht, weil sie nicht in der Lage ist, ihre eigene Freude über die „wahnsinnige“ Unterstützung der eigenen Politik und die Unterstützung der Politik der ukrainischen Regierung kritisch zu bedenken. Machen wir uns nichts vor: Einem Imperium steht ein anderes Gegenüber.
Aber trotzdem: aus dem Ende der Universalität und ihrer jeweiligen Ansprüche ließe sich kein Ende der Gewalt ableiten. Auch, wenn sich die Universalität nur als leere, abstrakte, geradezu fundamentalistische „Weltorthodoxie“ der Freiheit und der Menschenrechte gehalten hat, die sich gegenwärtig als Menschenrechtsimperialismus bei der deutschen Außenministerin ebenso wie bei anarchistischen QueerfeminstInnen zeigt: als Aufruf, 100 Milliarden Euro für zukünftige Kriege zu mobilisieren wie als Aufruf, anarchistische Gruppen mit Waffen auszustatten.

Wir sind vor eine doppelte Frage gestellt: Wie ist eine Universalität denkbar, die mit der Geschichte ihres eigenen Terrors bricht, und nicht permanent ein Jenseits ihrer eigenen Ordnung aufruft? Wir müssen uns auch der Frage stellen, ob es jenseits des Simulakrums und des Spektakels noch eine andere Wirklichkeit gibt, die uns leitet und wollen die Hoffnung aufrecht erhalten, dass die großen Theoretiker der Manipulation und des Verschwindens der Wirklichkeit nicht recht behalten.
Aus diesen Gründen sollten wir uns auf die Suche nach den Feinden des Spektakels und des Simulakrums begeben, nach denen, deren Begehren sich darin nicht erschöpft und verlebt. Nur sie können unserer Verbündete sein. „’s ist leider Krieg – und ich begehre, nicht schuld daran zu sein!“ (Matthias Claudius 1878). Ein Begehren, keine Deklaration.

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