Zwischen Katastrophenbesoffenheit und „nacktem-Leben“-Nihilismus

Die Pandemie hat die Welt scheinbar fest im Griff, und die Art und Weise des Umgangs damit nimmt in fast jeder Hinsicht immer absurdere, aber auch bedrohlichere und bedrückendere Züge an. Zwei Diskurse formen zur Zeit den Horizont des als denkbar Erlaubten und ersticken darin fast jede Möglichkeit befreiender Phantasie.

Katastrophenbesoffenheit

Da ist einerseits die Katastrophenbesoffenheit von Teilen der politischen Klasse und der wissenschaftlichen Eliten, die längst befreit von jeglicher (aufgeklärten)Vernunft Untergangsszenarien in die Welt blasen, das einem nur noch zum Kotzen ist. „Viele 40-80 Jährige werden einen Moment der Unachtsamkeit mit dem Tod oder Invalidität bezahlen“ twitterte am 26.03. die bundesdeutsche Reinkarnation sozialdemokratischer Flachgeistigkeit, Lauterbach, und ergänzte seinen Katastrophenhorizont um das, was ihm offenkundig noch schlimmer als der Tod erscheint: „Junge Männer werden von Sportlern zu Lungenkranken mit Potenzproblemen“. Eine pandemische Welle soll die andere jagen, und wenn die zweite von der dritten abgelöst ist, steht natürlich schon die vierte vor der Tür. Mutationen sind für ihn „brandgefährlich“, wie wenn man „ein Feuer habe und nochmal Benzin nachgießt“. „Biologischer Kriegszustand“ titelt der Berliner Tagesspiegel die Forderung einiger Ärzte nach einem „harten Lockdown“.

Da hat man schon das Gefühl, dass die Katastrophe regelrecht herbeigesehnt wird, und der Kriegszustand das eigentliche Leben ausmacht, so wie einst von Ernst Jünger in Stahlgewittern beschrieben. Die Pandemie – zur Katastrophe und zum Kriegszustand hochstilisiert – ist der Moment des eigentlichen Lebens, des Bestehens und der Bewährung der eigenen Existenz. Diese Katastrophenbesessenheit hat sich längst jeder politischen und philosophischen Reflexion entledigt und nimmt im Namen der eigenen Bewährung Vernunft und Freiheit in Geiselhaft – vielleicht weil sie ihren Unheilspropheten ein einziges mal vermeintliche Erfahrungssättigung in ihrem Leben schenkt. Und nicht nur deshalb wird diese Katastrophenverliebtheit auch so schnell nicht an ein Ende gelangen. Denn während der erste Weltkrieg tatsächlich in der fast vollständigen Katastrophe endete, weil ihm erst die nahezu vollständige Erschöpfung an Leib und Seele ein Ende bereitete, sehen wir bei Corona gerade nicht einem solchen Ende entgegen. Die gegenwärtige Pandemie ist nicht die Pest, und wenn ihr Ende nahe ist, wird die nächste kommen. Nicht aber, und dass muss uns endlich klar werden, als die totale Katastrophe, die maximal eine phantasierte Katastrophe ist, sondern eben als der alltägliche Ausnahmezustand, als die banale tagtägliche Katastrophe, der die meisten Menschen auf dieser Welt immer schon ausgesetzt sind. Von dieser Katastrophe aber wollte die je herrschende politische, wissenschaftliche und ökonomische Klasse bekanntlich nie etwas wissen. Und will es heute weniger denn je. Anders übrigens als in der jüdischen Tradition des Tenach funktionieren die apokalyptischen Phantasien derzeit auch weder als Widerstandswissen noch als Ahnung der eigenen Hoffnungslosigkeit. Sie dienen einzig dem Zweck der Verschleierung der Tatsache, dass die Macht auf tönernen Füssen steht, wie man schon in der Daniel-Apokalypse nachlesen kann. Apokalype heißt nämlich einfach „Offenbarung/ Offenlegung“ und verstand sich als Offenlegung der Strukturen der Macht der Herrschenden und der Behauptung ihrer Vorläufigkeit.

Der nackte-Leben-Nihilismus

Diesem Diskurs steht ein nur scheinbar anderer entgegen. Es ist ein Diskurs, der sich bei näherer Betrachtung als Spiegelbild der Katastrophenbesoffenheit herausstellt. Während die einen nämlich einfach nur im im Namen der „wirklichen“ Katastrophe (mit Hilfe der Kriegsrethorik) den totalen Lockdown fordern, fordern die anderen ihn, um vorgeblich das Leben zu schützen. In unterschiedlichen Variationen und Dringlichkeiten bestimmt der „nackte-Leben-Nihilismus“ das Denken der Linken von Sozialdemokratie über Linkspartei bis hin zum verkommenen Rest der radikalen Linken im Zero-Covid-Aufmarsch. Sie wollen den totalen Lockdown, um die Pandemie ein für allemal auszulöschen (was für eine dämliche Phantasie! Von der wohl inzwischen auch tendentiell abgerückt wird.), und kaschieren das mit einem Gefasel von sozialer Gerechtigkeit (Lockdown der Wirtschaft). Was anderes sollte einer Linken auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts einfallen? Anders als in der Katastrophenbesoffenheit ist das eigentliche movens hier die Angst vor dem eigenen Tod, der Einfalls- und Hoffnungslosigkeit des eigenen Lebens. Zu spüren dort, wo das Gegenüber beim Entgegenkommen einen Schritt zurück weicht, wo man sich in der WG vermeintlich aus Verantwortungsgründen die Erlaubnis einholt, um sich mit seinen liebsten Freunden außerhalb des Wohnprojekts zu treffen vom Späti das Feierabendbier zu holen. Zu spüren überall dort, wo man im Namen der Sicherung des Lebens all das aufgibt und zur Disposition stellt, was das Leben nun einmal ausmacht: Begegnung, Berührung oder Grenzüberschreitungen. Zu spüren dort, wo jegliche Exposition des Ich schon als ein halber Mordversuch und als „Über Leichen gehen“ interpretiert wird (wo z.B. die Fusion ankündigt, ein wirkliches Festival zu denken). Hier regiert der Imperativ der Selbsterhaltung, in dem das Leben nun wirklich auf das nackte Leben reduziert ist. Und das ist natürlich kein kantischer Imperativ des guten Lebens, sondern vielmehr der Imperativ der Unterwerfung als Selbstunterwerfung. Weswegen sich dieser Imperativ des nackten Lebens auch genau als Instanz absoluter Moralität inszenieren kann: Wer kann schon der jeweiligen Bereitschaft zum Aussetzen des Lebens, zur Selbstisolation widersprechen, also praktisch durch ein Leben, dass sich nicht der Angst vor der Infektion beugt, wiedersprechen, ohne zu ahnen, dass der Vorwurf des Zynismus und des unsolidarischen Verhaltens auf dem Fuß folgen wird. „Wir wollen nicht mit dem Virus leben – weil das immer noch bedeutet, dass Menschen am Virus sterben-, sondern wir wollen ohne Covid leben.“ heißt es in einem Artikel auf dem blog der Interventionistischen Linken. Hier vereint sich dieser Nihilismus, der sich das Leben nur ohne Virus vorstellen kann mit dem Moralismus, der seine Praxis nicht an die verbotenen Chancen des eigenen Lebens, sondern an das abstrakte Leben, bzw. Sterben der Anderen bindet. Ich sage absichtlich „abstraktes Leben“ weil selbstverständlich jede Begründung praktischen, linken Handelns das alltägliche und vermeidbare Sterben von Menschen im Rücken haben muss: den alltäglichen Ausnahmezustand eben, dem wir unterworfen sind, und dem wir deshalb zu entfliehen haben. Aber in der gängigen Argumentationsfigur der zeitgenösischen Linken ist es eben in der Regel das abstrakte Leben im schlechtesten Sinne, das angerufen wird, um im Namen der Moral die Selbsterhaltung in der Aussetzung des eigenen Lebens zu sichern. Und selbstverständlich ist in dieser Logik die Forderung an alle, es gleich zu tun, enthalten.

Das Leben aussetzen, um das Leben zu erhalten ist die höchste Form eines Nihilismus, in dem tatsächlich nur die Sorge um den eigenen Selbsterhalt und die Sorge, dass der/die Andere meine Selbsterhaltung gefährdet, im Zentrum steht. Bini Adamczaks Brevier der vermeintlichen Gegenmittel gegen eine „Sars-Cov-2“-Infektion ist die lächerlichste Version dieses Selbsterhaltungsnihilismus: „Zuhause bleiben, bei Atemnot Krankenhaus … Ausruhen … Viel Trinken (zB Grüntee) …“ Jetzt das Leben aussetzen, um es später zu leben: Spürt ihr den Schwachsinn in dieser Formulierung?

Das Leben riskieren, um das Leben zu gewinnen

Es war einmal eine Zeit, in der die Linke und sämtliche Befreiungsbewegungen einer anderen Logik folgten. Es war eine Logik, die darin bestand, das Leben aufs Spiel zu setzen und zu riskieren, um das Leben zu gewinnen, gerade auch für diejenigen, die ihr Leben nicht einsetzen konnten. Diese Logik hatte von der Logik der Befreiungskämpfe, in denen es vornehmlich um den Erhalt des Lebens bis zur praktischen Neuerfindung und Neubegründung des Lebens z.B. in den 68ern ging, viele Facetten. Und vergessen wir nicht: Die Trennung der Forderung nach Brot einerseits und Rosen anderseits war gerade keine Hier und Dort – Forderung. Brot und Rosen waren internationale Maxime!

Nun bräuchte es gar nicht einer so radikalen Anforderung, wie der nach der riskanten Aussetzung des eigenen Lebens. Es wäre schon viel gewonnen im unaufgeregten Widerspruch zur Selbstisolation. So, wie es viele im Widerspruch zum Katastrophalismus und Nihilismus längst schon tun. Für die Herrschenden ist die Tatsache, dass die lockdowns immer noch einmal verschärft werden müssen, die unbequeme Wahrheit, dass die Menschen wohl doch noch an einem gewissen Maß an Autonomie festhalten. Für die Linke die unbequeme Einsicht, dass sie wiedereinmal an den Menschen vorbeipolitisieren: Niemand vermisst Euch, niemand braucht diese Zero-Covid-Propanganda!

Die traurige Wahrheit ist, dass die Rebellion wieder einmal dort zu suchen ist, wo die Linke nicht ist: Bei den Querdenkern, in den banlieus, bei zunehmenden Temperaturen wohl immer mehr auch in den Parks. „Wenn ich Deine Revolution nicht tanzen kann, interessiert sie mich nicht.“: So oder ähnlich sagte es die Revolutionärin und Anarchistin Emma Goldmann. Hallo, liebe radikale Linke, seid Ihr noch da oder schon Geschichte?

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