Giorgio Agamben, 30.09. 2024*
Man kann die Bedeutung dessen, was heute in Israel geschieht, nicht verstehen, wenn man nicht begreift, dass der Zionismus eine doppelte Negation der historischen Realität des Judentums darstellt. Nicht nur, weil der Zionismus, indem er den christlichen Nationalstaat auf die Juden überträgt, den Höhepunkt jenes Assimilationsprozesses darstellt, der seit dem Ende des 18. Jahrhunderts die jüdische Identität nach und nach ausgelöscht hat. Entscheidend ist, dass, wie Amnon Raz-Krakotzkin** in einer exemplarischen Studie gezeigt hat, dem zionistischen Bewusstsein eine andere Negation zugrunde liegt, nämlich die Negation des Galut, d.h. des Exils als eines allen historischen Formen des Judentums, wie wir es kennen, gemeinsamen Prinzips.
Die Prämissen des Konzepts von Exil gehen weit vor die Zerstörung des Zweiten Tempels zurück und finden sich bereits in der biblischen Literatur. Das Exil ist die eigentliche Form der jüdischen Existenz auf der Welt, und die gesamte jüdische Tradition, von der Mischna bis zum Talmud, von der Architektur der Synagoge bis zur Erinnerung an biblische Ereignisse, wurde unter dem Gesichtspunkt des Exils konzipiert und gelebt. Für orthodoxe Juden leben selbst die im Staat Israel wohnenden Juden im Exil. Und der Staat, den die Juden mit dem Kommen des Messias gemäß der Tora erwarten, hat nichts mit einem modernen Nationalstaat zu tun: In seinem Zentrum stehen nämlich gerade der Wiederaufbau des Tempels und die Wiederherstellung der Opfer, von denen der Staat Israel heutzutage nichts wissen will.
Und wir tun gut daran, nicht zu vergessen, dass das Konzept des Exils im Judentum nicht nur JüdInnen betrifft, sondern den defizienten Zustand der Welt als Ganzes betrifft. Nach Ansicht einiger Kabbalisten, u.a. Luria, definiert das Exil den Zustand der Gottheit selbst, die die Welt durch ihre Selbst-Verbannung geschaffen hat, und dieses Exil wird bis zur Ankunft des Tikkun, d. h. der Wiederherstellung der ursprünglichen Ordnung andauern.***
Genau diese vorbehaltlose Akzeptanz des Exils mit der impliziten Ablehnung jeder gegenwärtigen Form von Staatlichkeit ist die Grundlage für die Überlegenheit der JüdInnen gegenüber den Religionen und Völkern, die sich dem Staat verschrieben haben. Die JüdInnen sind zusammen mit den Sinti und Rom das einzige Volk, das jede Staatsform abgelehnt hat, keine Kriege geführt und sich nie mit dem Blut anderer Völker befleckt hat.
Durch die radikale Leugnung von Exil und Diaspora im Namen eines Nationalstaates verrät der Zionismus somit das Wesen des Judentums selbst. Man darf sich also nicht wundern, wenn diese Vernichtung ein weiteres Exil, nämlich das der Palästinenser, hervorgebracht und den Staat Israel seinerseits dazu gebracht hat, sich mit den extremsten und rücksichtslosesten Formen des modernen Nationalstaates zu identifizieren. Der hartnäckige Anspruch der Geschichte, von der die Juden nach Ansicht der Zionisten durch Diaspora und Exil ausgeschlossen waren, geht in die gleiche Richtung. Das kann aber bedeuten, dass das Judentum, das nicht in Auschwitz gestorben ist, heute sein Ende finden wird.
(eigene Übersetzung)
* https://www.quodlibet.it/giorgio-agamben-la-fine-del-giudaismo
** Amnon Raz-Krakotzkin: „Exil et souveraineté. Judaïsme, sionisme et pensée binationale“, La fabrique, Paris, 2007
*** Gershom Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Zürich 1957