Der Rauch hat sich einigermaßen verzogen, aber mit der Initiierung des Aufrufs Zero-Covid hat sich ein Riss innerhalb der radikalen Linken vertieft, der ingesamt noch nicht durchmessen ist. Alle Diskussionen, alle verzweifelte „Haltet ein‟-Rufe sind vor den Nackte-Lebensangst- und Gut-das-mal-was-passiert- Protagonist*innen des Aufrufs verhallt. Jedes Argument, egal ob die Frage nach den Implikationen des China-Vergleichs und der Frage nach den totalitären Voraussetzungen der dortigen Politk wurden ebenso wie die Frage nach dem europäisch-homogenisierenden und ausschließenden Charakter des geforderten lockdowns zur Seite gefegt. Man muss B. Adamczak einfach wieder zitieren, damit es nicht vergessen wird: „Ich bin für offene Grenzen ebenso wie für offene Bars und offene Beziehungen. Alles schwierig in einer Pandemie. Wo Grenzübertritte notwendig sind, etwa bei Flucht, braucht es Quarantäneregeln.‟ Das Reflexionsniveau hat die Lumenzahl der Berliner Clubs unterschritten.
Auferstanden aus Ruinen …
Wer diese metropolenexistenzbefeuerten Sprüche kritisierte, wurde als Schwurbler diffamiert, wer den Wahnsinn der schon wissenschaftlich irrigen Hoffnung auf ein totales Ende des Virus kritisierte, wurde ob seiner Wissenschaftskritik als reaktionär beschimpft. Und aus dem Umfeld einer ehemals linksradikalen Organisation wurden Propagandaparolen weiterverbreitet, die unüberbietbar sind: „ Wir wollen doch auch wieder kuscheln und Fremde knutschen … Deshalb brauchen wir jetzt den lockdown‟. Es war der ehemalige Minister für Staatssicherheit der DDR, Erich Mielke, der dafür die literarische, aber wohl leider auch die politische Vorgabe gab: „Ich liebe – Ich liebe doch alle – alle Menschen – Na ich liebe doch – Ich setzte mich doch dafür ein!‟
Michael Foessel hat in der liberation dafür eine uns beschämende Interpretation vorgelegt. Die radikale Linke in der BRD sei dem Irrtum verfallen, dass eine Epidemie Gutes bringen könne, dass eine Krankheit Ursache für sozialen Fortschritt sein könne. Tatsächlich ist es eine vulgärmaterialistische Vorstellung, nach der aus der Pandemie eine strahlende Zukunft entstehen könne; aber das eben genau ist von der Linken übrig geblieben. Da bleibt einem nur übrig, an Mike Davis zu erinnern: „Covid-19 ist erst der Anfang‟. Ein lockdown auch in der Produktion wird weder die vulnerabelsten Gruppen vor dem Sterben (in der Bundesrepublik oder meinetwegen auch in Europa) schützen, noch in eine Zukunft ohne Pandemien (per definitionem: global!) führen. Man kann es gar nicht oft genug sagen: Die vorgeschlagene Politik des lockdowns ist zum Scheitern verurteilt. Erstens weil eben vielzuviel Menschen gar nicht in der Produktion, sondern im Carebereich und in der Reproduktion arbeiten, wie Tove Soiland in ihrem Beitrag nachgewiesen hat, und zweitens, weil keine Anstrengungen gemacht werden, in Heimen und Krankenhäusern entsprechende Maßnahmen zu ergreifen.
Massenlinie statt Antagonismus
Was bleibt? Knapp 100.000 Menschen sollen den Aufruf schon unterschreiben haben, jetzt geht es darum, eine Massenzeitung zu machen, vielleicht sogar Ortsgruppen zu gründen? Vielleicht gehts ja um eine Partei neuen Typs, oder doch nur um den unbewaffneten Arm der Linkspartei auf der Straße? Das ist die doppelte Problematik von Zero-Covid: Es geht nicht nur um (völlig untaugliche) Strategien der Pandemiebekämpfung, sondern es geht auch um ein neues Selbstverständnis von Teilen der ehemals radikalen Linken. Schluss ist es mit einem antagonistischen Selbstverständnis, mit unversöhnlicher Gegnerschaft zu gesellschaftlicher Normalität und bürgerlich-kapitalistischer Wirklichkeit. Man will Mehrheiten erkunden und schaffen, „Politik machen‟, – im schlechtesten Sinne des Wortes.
Aber es ist doch nur der ewig gleiche Irrtum der Linken in der BRD, zu meinen, die Massenlinie erkannt zu haben: Auf, vor die Betriebe, Agitprop. Keine Propaganda der Tat. Aber wieder einmal zeigt sich die Revolte der Massen an ganz anderer Stelle und ist von Seehofer viel präziser entdeckt und von Merkel in die Ausnahmezustandsverordnungen eingebaut: Es ist nämlich der Widerstand gegen die Schliessung der Friseurläden, der sich massenhaft und inzidenzschädlich Bahn bricht. Naja, eigentlich ist es die Revolte der Mitte, die zu einem unkontrollierten Schwarzmarkt und so zur Schädigung der Staatskasse und Unterlaufen des 50:100.000 Kultus führt. Also ist es wohl nur eine Frage der Zeit, bis die Zero-Covid-Anhänger in der radikalen Linken gegen die Öffnung der Friseurläden virtuell auf die Strasse gehen, um ihre Forderung nach einem Ende der Pandemie durchzusetzen. Noch schlimmer aber ist, dass sich diese Politik in Appellen an den bürgerlichen Staat erschöpfen muss, weil es eben keine andere Instanz gibt, die die Forderungen z.B. nach lockdown oder Grenzkontrollen durchsetzen könnten.
Bekehrung zur Normalität
Die Umkehr zur Unterwerfung unter die Normalität bürgerlich-kapitalistischer Politik verweist tatsächlich auf ein tiefergehendes Problem: Zu Beginn der Pandemie hatten wir viel zu spät begriffen, dass jetzt Schluss mit gesellschaftlicher Normalität war, dass gesellschaftliches Leben in naher Zukunft ganz anders aussehen würde. Aber stattdessen haben wir so weitergemacht, als sei alles „ganz normal‟, als könnten wir im bekannten Modus der Demos und symbolischen Blockaden weitermachen, um die Situation unter Kontrolle zu bekommen. Es folgte eine Phase des Schweigens und des Rückzugs in die Virtualität, eine lange Phase des Aussetzens jeden Versuchs, eigene Formen der Verständigung und der Auseinandersetzung zu finden. Und jetzt, jetzt wollen viele wieder zurück zur Normalität, zu einer Welt ohne Covid, in der wieder gekuschelt werden kann. Es offenbart sich ein erschreckendes Begehren nach Normalität. Kein Anzeichen davon, dass wir die Normalität doch einmal für die Katastrophe und den eigentlichen Wahnsinn der Welt gehalten haben: Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Daß es »so weiter« geht, ist die Katastrophe. Sie ist nicht das jeweils Bevorstehende sondern das jeweils Gegebene.‟
Nochmal: aus der Katastrophe wird sich kein Fortschritt ergeben, aus der Pandemie und dem lockdown entsteht keine „sozialistische Weltrepublik‟, traurigerweise noch nicht einmal das Ende der Pandemie selbst, oder der Schutz der am meisten Gefährdetsten.
Vielleicht ist es dieses Begehren nach Normalität, das dann auch dazu führt, dass all die ganz realen Aufstände gegen den nun schon ein Jahr dauernden Ausnahmezustand externalisiert werden? Warum versteht man die riots in Amsterdam, in Tunis, die Demos in Athen vielleicht als Armutsaufstände, als Aufstände marginalisierter migrantischer Kids oder anarchistischen Insurrektionalismus, aber nicht im Ansatz ernsthaft als politische Bezugspunkte?
„Unsere Geste ist politisch‟
Zum Schluss ein letztes Zeichen der Bereitschaft zum Widerstand gegen die Normalität der perspektivlosen Pandemiepolitik vom Sylvesterrave in Lieuron, der mithilfe staatlicher Repression beendet wurde: „Für all jene, die sich fragen, woher der Wille stammte, das neue Jahres zu feiern, hier die Antwort in wenigen Worten: Ein Jahr der Traurigkeit, der Angst und der Entberung ist zu Ende gegangen. Die Entschlossenheit, mit der viele Menschen versucht haben, sich Zugang zur Fete zu verschaffen, ist Ausdruck eines tiefen Willens, loszulassen. Solche Freiheitsräume sind den Menschen seit Urzeiten eigen. Für viele von uns ein unabdingbares Bedürfnis… Wir sind deshalb der Bitte jener gefolgt, die nicht nur ein Leben leben wollen, das bestimmt wird durch die Arbeit, den Konsum und den Bildschirm und einsame Abende. Unsere Geste ist politisch … ‟
Und wer jetzt schon wieder in moralischer Entrüstung über den angeblichen Zynismus dieser Menschen versinkt, der soll erstmal die ganze Erklärung lesen!